Edith Hess, 2015, mit 92


«Ich bin dabei, mein inneres Lebenshaus aufzuräumen»


Aktueller Monatsbrief

Liebe Edith Hess

 

In diesem Monat, im August, würdest du deinen 102. Geburtstag feiern. Doch vor vier Monate bist du gegangen. Du fehlst. Natürlich wussten wir und du ja auch, dass alles ein Ende hat und ein Leben wie deines, so satt und reich, macht müde und darf enden. Bei jedem Besuch haben wir uns zum Abschied umarmt und gesagt: bis zum nächsten Mal. Noch bei unserem letzten Besuch hast du mit meinem Mann im Park Rallye gefahren mit deinem Rollator wie ein übermütiges Mädchen. Du hast gelacht und warst glücklich. Aber nicht einmal mit 102 ist sterben leicht. Ein Sturz hat dich traumatisiert und nichts stimmte mehr. Zwei Pflegerinnen haben dich liebevoll zum Übergang begleitet.

 

Natürlich hatten die beiden Frauen ausländische Namen. Das war oft unser Thema. Ohne die ausländischen Frauen und ein paar wenige Männer in der Pflege, im Putz- und Hausdient, in Küche und Service, hätte das Haus, in dem du deine letzten Lebensmonate gelebt hast, nicht bestehen können und schon gar nicht mit einer guten Lebensqualität. Wie oft hast du dich geärgert über jene, die über Ausländerinnen und Ausländer lamentieren!! Und doch, Sozialpädagogin und Sozialarbeiterin wie du warst und bliebst, hast du den fremdsprachigen noch die eine oder andere qualitative «Sprachlektion» erteilt. Du hattest ja Dutzende von Gesprächsführungskursen erteilt, warum nicht auch hier. Ich Botschaften – das geht doch und erreicht mehr als Befehle, aktives Zuhören, das praktiziertest du, denn auch die Pflegenden haben mal Sorgen, vielleicht schlechte Nachrichten von zuhause… so wurdest du geschätzt ja geliebt.

 

Du bist für mich die unermüdliche Fachfrau durch Jahrzehnte geblieben. Begonnen haben wir unsere Arbeitsbeziehung durch einen Kurs des Berufsverbandes zum «Wiedereinstig von Sozialarbeiterinnen nach der Familienphase». Das fiel in eine für dich schwierige Zeit, hatte doch Max, dein Mann, gerade einen schweren Hirnschlag erlitten und musste sein erwartetes Pensionierten Leben total revidieren. Schmerzen plagten ihn und du kamst ins Dilemma: Pflegerin oder Berufsfrau, das ewige Dilemma von uns Frauen. Ich musste den Spagat zwischen den Ansprüchen meiner noch kleinen Kinder und der Berufsarbeit machen, du zwischen der Tochter in der Pubertät, die mit Abgrenzung und Zugehörigkeit kämpfte. Manchmal seufzten wir über unser Mutter Überich, manchmal konnten wir lachen.

 

Schnell wurde aus der gemeinsamen Arbeit eine tiefe Freundschaft, die uns beide, glaube ich, gestärkt hat. Es tönt vielleicht etwas überheblich; aber wir wussten, dass wir «gut» sind, in dem was wir tun. Gerade weil wir immer zweifelten, ob wir genügen… Das Paradox so vieler von uns. Sozialarbeit, Partnerin, Mutter, ja Hausfrau sein – das ist man nie «fertig», bekommt nie das ultimative «perfekt» ins Zeugnis geschrieben. Daran littest du bis zuletzt, manchmal schmunzelnd über dich selbst, haben dir doch Reflexion, Therapie und Begegnungen mit vielen Menschen deine starken und deine schwachen Seiten deutlich gemacht. Auch die «bleibenden Wunden»…

 

Du warst eine frühe Grüne, klar eine bürgerliche Grüne, wie du immer wieder gegenüber mir schmunzelnd klar machen musstest, aber du hast Abfall recycelt, als das noch kaum verlangt wurde. Du hast dein Auto weggegeben, bist nur Zug gefahren und du wolltest nicht nur als Einzelfrau handeln, nein, du hast Umweltgruppen gegründet, eben gerade auch in deinem bürgerlichen Umfeld. Das war nicht einfach und hat dich zunehmend politisch radikalisiert. Du gehörtest denn auch zu den Unterstützerinnen meiner politischen Arbeit von der ersten Stunde an, wie man so sagt und hast in mir wohl die damals junge Frau gesehen, die sich traut, was du dich noch nicht getraut hast und auch gar nicht konntest.

Bis ins hohe Alter warst du gefragte Referentin*, wobei das Hauptthema Alter die Chiffre wurde über Tun und Lassen, wach bleiben und Abschied nehmen. Schmunzelnd erzähltest du vom Altwerden. Da gibt es ganze Bibliotheken. Aber das Altsein, das sei eine ganz andere Realität. Darüber wird noch immer eher geschwiegen. Du hast darüber geredet. Ich war und bin von dir Lernende.

 

So hast du mir zum Beispiel gezeigt, wie du «durch dein Leben spazierst», da oder dort dich «hinsetzt» und überlegst: was war damals so schwierig, was war so schön, warum bin ich hier richtig abgezweigt und habe dort den falschen Weg eingeschlagen. Es sei Versöhnung und Dankbarkeit, was das Altsein ausmache. Ich versuche, dir darin ähnlich zu werden, nicht immer mit Erfolg. Die Aktivistin prägte mein Überich zu sehr, wie bei dir ja auch.

 

Auch über Religion haben wir gesprochen – die Kreuzestheologie und Erlösung, und Himmel und Ewigkeit – wir blieben Skeptikerinnen mit Neugier. Du bist und bleibst lebendig, für mich, für viele. Das entscheidet.

Danke für alles, meine liebe Freundin.

 

*Die Reise ist noch nicht zu Ende . . .

Seelische Entwicklung und neue Spiritualität in späteren Jahren

Rey, Karl G.; Hess, Edith, Kösel, 2003, 187 Seiten

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