
Oktober-Geschichte
Felix
Nein, das war in keinem Buch der gesamten Fachliteratur und auch in keiner Studie, die ihm als Gutachter zugestellt wurde, thematisiert worden. Auch auf keiner der vielen Tagungen, die er besucht und teilweise mitorganisiert hatte, war das ein Thema. Er wusste leidlich Bescheid über die Gelenkprobleme und ihre Therapie, er kannte die Hör- und Sehschwächen und was man heute alles tun kann, um sie auszugleichen, er kannte die Herz- und Kreislauferkrankungen des Alters und des Hohen Alters und selbst die kognitiven Beschränkungen konnten heute präventiv angegangen und dann auch sehr lebensverträglich bewältigt werden. Felix ist ein Spezialist in Altersfragen. Sein Wort gilt etwas.
Was ihm nun aber passiert ist, das überraschte. Sein Ich war über Nacht gealtert. Er wusste nicht, dass das möglich ist. Niemand redete davon und wenn er es jetzt versuchte, begann man sofort vom Phänomen der Altersdepressionen zu reden, von den verschiedenen Formen, die ja mit der natürlichen Abnahme der Energien verständlich sei. Auch mit den chemischen Prozessen im Gehirn wurde dann argumentiert, die ja, wie er sehr wohl wusste, mit entsprechender Chemie zu therapieren war.
Felix hörte auf davon zu reden. Offenbar war das – nicht – der Rede wert. Aber er erlebte es und litt darunter. Er war bis jetzt überzeugt gewesen, eine zwar sensible Psyche aber doch mit sehr robustem Ich zu haben, und mit beidem seine Arbeit empathisch und klug erfüllen zu können. Er war ja auch erfolgreich. Die Seele, das Ich, falls es denn irgendein Körper, ein Organ, ein Ort mindestens war, war sehr wichtig und sehr verletzlich. Felix erlebte dabei immer wieder, dass ihn etwas trifft, be-trifft, wo er nicht als Fachmann und Referent sondern als „leidender“, als Patient gemeint war.
Er interessierte sich für sich selbst und das Erleben dieses Phänomens. Und er begann zu forschen und sich zu erinnern. Auf dem Weg zum Erwachsenwerden war es ihm schon einmal begegnet: alles Wissen, was sie da in seinem Kopf anhäuften und alles Erleben, das er mit Familie und Freundeskreis lernte, waren eindrücklich, prägend. Doch eines Sonntagmorgens – er war zu früh erwacht – empfand er klar, da ist noch etwas, das ich nicht einordnen kann und es auch nicht will. Es ist wohl das, was die Psychologie mit Ich meint, aber noch wesentlich mehr, ein Ich plus. Das ist aber nicht als Auszeichnung zu werten sondern als ein Rucksack, der einfach mitgetragen werden musste. Es ist auch ein Ort und eine Befindlichkeit, die nur mir gehört. Die kann man mir nicht nehmen, nicht abnehmen, auch nicht mehr beeinflussen. Er beschloss, da weiter zu forschen. Das blieb aber hängen im Alltag mit all dem, was man heute lernen, bewältigen, abarbeiten und „werden“ musste.
Erst wurde immer deutlicher, dass dieses Ich nicht nur stärkend und selbstbewusst war sondern auch furchtbar verletzlich und bedrohlich. So Vieles, was ihm widerfuhr, ja was der Welt widerfuhr, traf ihn genau dort. Und er konnte sich nicht schützen. Das war das unheimliche. Auch davon zu reden wurde immer unmöglicher. Jeder Versuch endete in der Aufforderung, sich analysieren, therapieren, evt halt mit Psychopharmaka weniger empfindsam zu machen. Die Ratschläge waren zahlreich und manchmal auch verletzend. Dahinter steckte oft ein Vorwurf: gehab dich nicht so, als ob du etwas Besonderes wärest. Wir müssen auch mit vielem fertig werden. Kümmere dich um die unmittelbaren Fragen und löse die Probleme, die vor der Nase liegen. Das ist Arbeit genug. Stimmt.
Mit der Zeit entdeckte er in der Literatur, in Romanen, vor allem auch in historischen, dass diese Ichformen immer wieder auftauchten, auch als gefährlich eingestuft und je nach Blickwinkel gar als „vom Teufel“ oder „von besonderen Gnaden“ umschrieben wurden. Er verschlang die Biografien von Menschen, darunter erstaunlich vielen Frauen, die darunter litten und doch irgendwie souverän damit umgingen, aber immer nur so lange, wie sie es nicht öffentlich machten. Dann wurde es gefährlich: Hexe, Spinnerin, geisteskrank, hysterisch, die Etiketten waren zahlreich. Auch bei den Männern kamen oft brutale Vernichtungen zum Zug: Irrlehrer, Ketzer die - wie bei den Frauen auch - mit Folter, Scheiterhaufen, Tod oder Ausschluss endeten.
Felix erinnerte sich an Männerabende, bei denen die oberflächliche Erklärung der Welt mit der Menge Bier und Schnaps korrelierte. Wenn er es dann wagte zu fragen: und wenn es doch ganz anders wäre… dann kam Hohngelächter „ach ja, unser Felix, der glückliche Unglückliche“ oder er war schlicht der Witzbold, den man halt einfach links liegen lassen musste. Seine Gespräche mit seiner Frau waren zwar wohltuend. Er spürte aber auch, es verunsicherte sie. Er wollte das aber ganz und gar nicht. Sie fielen künftig weg.
Er machte Karriere und ordnete sich ein und unter, wo nötig, nahm er auch mal selbst das Heft in die Hand und definierte mit. Man hörte auf ihn, das machte ihn erfolgreich. Doch es gab immer wieder Momente, wo er genau voraussehen konnte, wie es kommen wird und konnte es doch nicht verhindern. Dieses Kassandraleben machte ihm Angst, denn es liess ihn machtvoll ohnmächtig bleiben. Ein Zustand, der kaum erträglich ist. Er lernte auch die Unruhe kennen, die über ihn kommt, unerklärlicherweise und beängstigend. Oft erkannte er dann am Tag darauf, was „es“ gewesen war: ein Terrorakt, ein Erdbeben, ein Tsunami… Wer würde ihm glauben, dass er das gespürt, irgendwie gewusst hatte? Er wäre nicht mehr der Witzbold sondern der Irre.
Jetzt ist er alt und merkt, dass genau diese Kraft schrumpft. Es könnte Erleichterung sein, ist es aber nicht. Der Ort, der Zustand, sie waren noch da aber kümmerlich, ohne Energie und ohne Gegenwehr. Offenbar aber bietet sich noch genug Angriffsfläche für Unbill grösseren und kleineres Masses. Wie mit Kletten hängte sich der Wahnsinn der Welt, der Grossen, an, wie mit Seilen fesselten ihn die kleinen und mittleren Krankheiten und Sorgen in der Nähe. Das erschöpft.
Felix geht am Sonntagmorgen früh in den Wald. Das hatte er schon lange nicht mehr getan. Heute hatte er Lust und er erinnerte sich an jenen andern Sonntagmorgen vor Jahrzehnten, an der er sich „fand“ und er merkte, er musste sich damit versöhnen. Offenbar war dieses Ichplus wie ein Konto, das mal geräumt werden muss, zu viele Zahlungen waren darüber abgewickelt worden, Schulden saniert, es musste geschlossen werden. Alles Wichtige war wichtig, alles Erfolgreiche erfolgreich, alle Fehler halt gemacht. Aber dieses erschöpfte gealterte Ichplus, dieses jetzt oft nur noch müde Ich gehörte ebenfalls zu seinem Lebensbogen und war kostbar, unumkehrbar. Es leuchtete trotz allem wie ein geschliffener Diamant.
Den grossen Rucksack hatte er schon längst geleert, den Proviant verzehrt oder verteilt, das Wasser für viele Durchstrecken gebraucht. So war dieses Ich zu einem alten Säcklein verkommen, wie es jeweils im Vogelhäuschen hing, nachdem alle sich daran gütlich getan hatten. Dazu war es ja da. Felix war überzeugt, dass darin Diamanten zu finden sind, seine Diamanten - das meint vielleicht die Ewigkeit - hart geschliffen, kostbar.

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