Mai-Geschichte

Kevin und Angela

Er war verzweifelt. Das wollte er nie, nie, nie. Alles ist ihm zu eng, zu behindernd – ja, er  i s t  behindert, verdammt nochmals. Er will es nur noch nicht akzeptieren, auch das will er nie. nie, nie. Er war ein begabter Töfffahrer, er kannte die Risiken, er war nie selbstmörderisch, er hatte es ihr und seinen Eltern versprochen. Dass der andere Idiot die Kurve auf dem Pass so schneiden musste, war einfach nur Wahnsinn. Es hat sein Leben zerstört.

Kevin war verzweifelt. Aber wie zeigt man Verzweiflung, wenn man im Bett liegt, noch fixiert und mit Medis ruhig gestellt. Schreien, ja das könnte er. Aber dann kämen wieder alle, die Ärzte, die Pfleger und Pflegerinnen und das Fazit wäre: der Psychiater schreibt ein neues Rezept, eine neue Dosis. Und dann ist er gleich weit, respektive gleich am A….So fluchte er still, tobte im Innern, bekam Magenkrämpfe und sein Herz schlug wie ein Heer von Buschtrommeln. Ein Herzschlag wäre eigentlich eine gute Lösung! 

Als Angela vom Unfall hörte, war sie seltsamerweise nicht überrascht, nur zerstört; sie sah eine dunkle Wand ohne Durchgang. Irgendwie war sie vorbereitet darauf, dass es geschieht, aber nicht, wie man damit klarkommt. Darauf kann man sich vielleicht auch gar nicht vorbereiten, wie ja auf Vieles im Leben nicht. Sie war auch nicht auf Kevin vorbereitet gewesen, als sie ihn getroffen hat. Er entsprach so gar nicht dem, was sie als Partner wünschte. Er war ziemlich grob und laut und dominant. Das gefiel ihr überhaupt nicht. Erst später im näheren Kontakt erlebt sie ihn ganz anders, zärtlich, etwas verunsichert, fast scheu. Das Machogehabe war also Maske, um nicht sensibel zu wirken, weich. Sie wusste es von den andern Frauen der Clique der Töfffahrer, in die sie schnell aufgenommen wurde, dass er nicht der einzige ist, der so funktioniert.

Nach dem Unfall war die Clique wunderbar, die Männer wie die Frauen; sie besuchten Kevin, halfen ihr, den Eltern und versuchten ein Netz von täglichen Besuchen und Sms und Filmen mit Aufheiterungen aufzubauen. Toll. Nur Kevin war unerträglich, er war undankbar, gemein zu seinen Freunden, beschimpfte sie und blaffte sie an: “Ihr müsst nicht mehr kommen, tut doch nicht so scheinheilig, fahrt euch selber an den A…“ usw und Angela musste ihn immer entschuldigen im Club. „Er kann im Moment nicht anders, habt Geduld…“

Aber sie hatte auch keine mehr. Auch zu ihr war Kevin nur noch grausam. Es gipfelte im: “Hau ab, such dir einen tollen Hecht. Tu nicht so, als ob du einen Krüppel willst“ Was bedeutet das? Die Psychologin der Spezialklinik, in der Kevin zurzeit behandelt wurde, anerbot ihr, auch mit ihr regelmässige Gespräche zu führen. Denn diese Krise, und das sei es definitiv, könne kein Mensch allein bewältigen, keine Beziehung einfach so überleben. Angela nahm das Angebot gern an. Aber mehr als heulen bei der Therapeutin und erklären, dass sie nicht mehr weiterwisse, wurde vorerst nicht aus diesen Stunden.

Nach einem halben Jahr sah alles anders aus. Die Clique hatte sich zurückgezogen. Nur eines der Mädchen ging regelmässig mit Angela in die Sauna und auf ein gemütliches Znacht. Gemeinsam konnten sie ihre Sorgen wälzen, die eine, weil es tatsächlich passiert ist, die andere, weil sie davor immer Angst hatte. Sie konnten aber auch lachen und phantasieren, was aus ihrem Leben hätte werden können, wenn… und manchmal tauchte sogar der Gedanke auf: was wird denn nun tatsächlich? 

Kevin hatte in der Klinik Freundschaft geschlossen mit Paul, einem jungen Mann, der durch einen Reitunfall querschnittgelähmt wurde. Gemeinsam wurden sie zu REHA Partnern und feuerten sich gegenseitig an, freuten sich über jeden Fortschritt und betranken sich manchmal sinnlos, wenn die schwarzen Wolken wieder zu dicht wurden. Paul war aus anderem Holz geschnitzt. Er wollte hier raus, so bald als möglich, phantasierte schon aktiv, auch mit fachlicher Beratung, was er tun könnte, was seine Möglichkeiten sind. Eine zusätzliche Motivation war seine Frau. Sie hatten vor zwei Jahren geheiratet und Pläne für ihr Leben gehabt. Maria kam regelmässig in die Klinik, hübsch, fröhlich und voller Tatendrang. Sie half Paul über jede Durststrecke hinweg. Auch Kevin versuchte sie zu motivieren.

Bei einem Raclette zu dritt, fragte Maria: “Hast du eine Freundin?“ Kevin gestand, dass er sie verjagt habe und nicht auf ihre Sms und Post reagiere. Nun kam er dran. Paul und Maria lasen ihm so richtig die Leviten: „Glaubst du tatsächlich, dass du jetzt den einsamen Wolf spielen musst, den traurigen Kameraden? Du wirst viele Menschen brauchen, und auch einige ganz nahe Personen. Jetzt mach aber vorwärts, wir wollen Angela kennenlernen“ Der Abend wurde noch recht heftig, zornig, fröhlich, emotionales Durcheinander.

Im Bett konnte Kevin, Schlafmittel hin oder her, nicht einschlafen. Nicht der reichlich konsumierte Weisswein war der Grund. Er war aufgewühlt. Hatten Paul und Maria Recht? Hatte er sich Angela gegenüber wie ein Zombie verhalten? Soll er wieder Kontakt aufnehmen? Er hatte ganz einfach Schiss, das muss er, der grosse Zampano, sich eingestehen. Schliesslich weinte er zum ersten Mal seit Wochen um sich selbst, den Blödmann, nicht um seine Behinderung, sondern um seine Seele, die zum Bonsai geschrumpft war.

Angela staunte nicht schlecht, als ein Mail von Kevin kam, indem er sie bat, doch möglichst bald an einem Sonntag zu einem Besuch zu kommen. Er habe dann Therapie frei. Es gehe ihm jetzt viel besser und er entschuldige sich für sein bisheriges Verhalten. Er möchte mit ihr reden und, da er jetzt Rollstuhl fahren könne, könnten sie vielleicht im Seerestaurant zu Mittag essen. Er würde sie gern einladen. Angela freute sich und sagte für übernächsten Sonntag zu.

Das Essen, Angela liebte Fisch, verlief fast normal, nur einmal musste sich Kevin überwinden, Angela zu bitten, ihm die etwas zu hart gekochten Kartoffeln in mundgerechte Stücke zu schneiden. Sie redeten über dies und das. Nach dem Espresso schlug Kevin vor, auf der Seepromenade ein Stück weit zu „gehen“. Er war ja stolz darauf, dass seine Oberarme durch die Therapie so gestärkt waren, dass er in normalen Tempo „gehen“ konnte. An einem schönen Platz mit Aussicht machten sie Rast. Kevin fasst Mut: „Ich war ein A… Ich war so verzweifelt, wollte nichts und niemanden mehr sehen, hören, an mich heranlassen und tat mir nur Leid. Ich wurde zum Egoisten, der ich schon immer war, jetzt aber hoch sieben!! Kannst du das verstehen? Ich entschuldige mich wirklich, ich wollte nicht so sein, konnte aber nicht anders!“

Angela nahm seine Hand und küsste seine Finger, ein Spiel, das sie früher geliebt hatten und das so zärtlich und versöhnlich war, dass man meistens nicht mehr viel reden musste. Auch heute beruhigte es. Kevin getraute sich weiter zu reden: „ich erwarte nichts von dir, das geht nicht. Ich muss zuerst selbst klar kommen. Ich freue mich aber, wenn du mir nahe bleibst, auch ohne zu wissen, wohin das führt.“ Angela nickte und erzählte ihrerseits von dem Gefühlschaos, in dem sie gelandet ist, von den zunehmend hilfreichen Gesprächen mit der Psychologin und ja, dass sie ihn vermisst habe. Sie stellte aber auch klar, dass sie dabei bleibe, sie gehe im neuen Jahr für sechs Monate nach Amerika für ihre Weiterbildung. Sie habe um diesen Platz im Institut gekämpft und ihn erhalten, also wolle sie die Chance nutzen. Irgendwie entlastete dieser Plan die Stimmung. Er zeigte auf, beide haben einen weiten Weg vor sich, warum auch nicht. Und ob er je ein gemeinsamer werde und wie der aussehen könnte, musste gar nicht hier und jetzt und unter Druck entschieden werden. Sie konnten ihre Freundschaft leben, vorsichtig, gelassen. Abhängigkeit, Autonomie, Fürsorge und Selbstbestimmung – waren das nicht Themen für alle Paare? Für sie einfach existentiell?

Kevin erzählte von Paul und Maria. Angela freue sich, sie kennenzulernen. Sie spürte, dass diese Beziehung für Kevin entscheidend wichtig war und ist und warum nicht auch für sie?

Am Silvester gab es das Raclette zu viert und zwar in Marias und Pauls Wohnung, d.h. Matratzen wurden ausgerollte, die Rollstühle parkiert und man durfte sein und bleiben, wie man sich fühlte und sich bewegen wie es halt ging, robben, kriechen… das gab sogar Lachanfälle, nahe in der Wärme von Freundschaft und Vertrauen. Um Mitternacht kam Maria geheimnisvoll mit einer Flasche Champagner aus der Küche, schenkte ein und lächelte, Paul, in ca sieben Monaten sind wir zu dritt. Bist du einverstanden, dass Angela und Kevin die Patenschaft für den Prinzen oder die Prinzessin übernehmen? Paul kam zuerst gar nicht klar, dann schrie er vor Freude. Er hatte nicht mehr daran geglaubt, dass er trotz allem Vater werden kann. Es gab Tränen, Küsse, Hoffnung; irgendwie spürten in dieser Nacht auch Kevin und Angela die Gewissheit, dass es eine Zukunft gibt.

 

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© Copyright Monika Stocker