Juni-Geschichte

Roman

Er ist sauer, ab und zu auch zornig, stinkig, schimpft beim Zeitungslesen, schüttelt den Kopf bei der Tagesschau und beim ewig gleich aufgestellten Polittheater am Sonntagabend könnte er in den TV springen. Er ist also auf dem besten Weg einer jener alten Männer zu werden, wie er nie hatte werden wollen, brummig, unsympathisch und ärgerlich. Oder was?

Der Enkel meldet sich. Er hat einen Bastelbogen der Titanic bekommen, mega… kommst du? Natürlich kommt er und schulfreier Mittwochnachmittag und Regensonntag sind ausgefüllt mit ausschneiden, falzen, leimen und dabei natürlich die Geschichte der richtigen Titanic zu lesen und zu diskutieren. Immer grösser, unmanövriebar, kaum zu steuern, keine Chancen, Richtungen schnell zu wechseln! Da gab es ja gerade ein Anschauungsbeispiel in der Neuzeit: der Megafrachter hat den Suezkanal für Tage lahmgelegt. Eben. „Gell, die sind doch dumm, wenn die meinen, grösser sei immer besser?“ Ja, vielleicht kapiert es ja die übernächste Generation?

Und dann der Besuch beim Arzt. „Übergewicht verkürzt ihr Leben, Sport verlängert ihr Leben, aber sonst… sind Sie ganz gut dran – für Ihr Alter“. Die letzten drei Worte werden zum Mantra. Man kann sie ab sofort praktisch jedem Satz anfügen. Sie verfolgen das Leben auf Schritt und Tritt: beim Haare schneiden, ja, sie sind dicht für Ihr Alter …, beim Zahnarzt, ja, gar nicht schlecht für Ihr Alter, beim Kleiderkauf, ich empfehle… für Ihr Alter -… Die Kategorie ist gegeben. Soll ich ihr folgen? Roman hat fast acht Jahrzehnte gelernt, nicht zu gehorchen. Warum jetzt plötzlich? 

Und dann die Gesundheitsmagazine, die jetzt unaufgefordert im Briefkasten liegen. Rheuma, da gibt es ein Kaufhaus voll von Mitteln, das man leer räumen kann, Inkontinenz, da gibt es eine ganze Garderobe, Ferienangebote, dafür reicht ein ganzes Leben nie aus, Bank- und Finanzgeschäfte – für wie blöd halten die die Alten?

Und dann das Auto für den älteren gepflegten Herrn? Natürlich, die Kaufklasse wird vorher recherchiert und er wird massgeschneidert beworben. Wenn die wüssten, dass mir das Auto Gen fehlt?! Nicht erst jetzt sondern seit je. Ich entscheide: ich kaufe keines mehr.

Etwas später und in klugen Abständen kommen die Prospekte für die Physiotherapie bei Ihnen zu Hause, die Massage bei Ihnen zu Hause, die Pedicure bei Ihnen zu Hause… Roman schmunzelt: so viel Besuch auf einmal?! Nein, danke.

Und auch die Seniorenresidenzen entdecken ihn. Probeferien, Probeessen, Probekultur, Schön sehen sie aus die Hochglanzprospekte. Keine Lust auf drei Mal täglich gepflegte Essen mit Fremden zum Zeitpunkt xy – das hatte er schon vor Jahre gehasst….Wer im Internat grossgeworden ist, hat alle Grosshaushalte schon mal kritisch im Blick und wer viel auswärts essen musste oder durfte, sehnt sich nach der kleinen Küche.

Er wird immer zufriedener. Wie schön, was er alles nicht braucht. Tatsächlich, es wird immer weniger und zwar nicht aus falscher Bescheidenheit oder Geiz oder Unmut. Sein Glück, sein Konsum ist einfach anders als er wohl sein soll für sein Alter.

Er kauft Bücher, immer noch und immer wieder. Er kauft Bilder, immer noch und immer wieder. Er will seine Stadt „besitzen“ in allen Formen, Farben, ihre Geschichte, ihre Kultur, ihr riesiger Reichtum, nicht der finanzielle.

Irritieren kann er schon und man ihn: was, nie in Amerika gewesen! Nie in Asien! Nie in Afrika, nie in Australien! Das gibt es doch gar nicht. Es ist auch ganz anders. Die Bücher haben Roman in fast alle Länder dieser Welt geführt, in entlegene Winkel im hohen Norden, in todtraurige Herzen im angeblich so leidenschaftlich fröhlichen Süden, in frustrierte Familienkonstellationen im alten Russland genauso wie ins 0815h American way of life Reihenhaus, in befreiende Aufbrüche in Afrika, wo junge Menschen es gewagt haben aufzustehen, aufzubauen, durchzuhalten. Und dann die intensive Geschichte von Frieden und Krieg, das Dauerthema der Menschheit, er ist nicht optimistisch, gerade nicht für sein Alter…

Das mönchische Leben hat kaum mehr einen Stellenwert: stabilitas loci und Konzentration auf Weniges, aber das vertieft und leidenschaftlich und treu, sind kaum Werte von heute. Aber wenn du das stur so haben willst bei deinem Alter…

Er sei doch jetzt einsam für sein Alter … Dabei sind alle Personen da, in den Tausenden von Büchern, in Millionen von Seiten, in ihren erzählten und erlittenen Biografien. Sie sind abrufbar und jederzeit wieder zu versorgen. Sie passen heute genau und morgen gar nicht. Auch das ist Freiheit für sein Alter

Die Freundinnen und Freunde sind mit dabei in diesem Prozess. Da gibt es viel zu lachen, zu jammern auch, aber dieses wird strikt auf 30 Minuten pro Treffen beschränkt. Alles andere ist ungesund für ihr Alter

Gesunde Ernährung, Ballaststoffe, kein Alkohol, nur grün oder nur weiss oder was oder wie? Warum? Ist er nicht acht Jahrzehnte alt geworden mit grosser Dankbarkeit, dass es immer genug zu essen gab, nicht immer das gewünschte zwar, vor allem früher, aber jetzt: er kann wählen, darf wählen, er darf auch ungesund essen und er darf sein Glas Wein geniessen. Wenn die Jungen doch nur wüssten, wie schön es ist zu geniessen, was er täglich tut, zu viel für sein Alter ….

Roman liebt sein Leben, zu sehr, für sein Alter? Sicher nicht. Ein zu sehr gibt es nicht in seinem Alter.

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© Copyright Monika Stocker