
Juli-Geschichte
Lydia
Es war kaum mehr auszuhalten. Ja, sie war die Briefkastentante, wie ihre Freundinnen sie neckten und einiges gewohnt. Aber was jetzt, seit Ausbruch der Pandemie, da täglich anrollte als Leserbriefe, Mails, SMS, schlicht auf allen Kanälen, war einfach zum K… Lydia musste sich zwingen, cool zu bleiben und einfach wie bisher ihre Arbeit zu tun: auswählen, kürzen, ablehnen, löschen und täglich eine halbe Seite publizieren. Sie arbeitet wie alle andern auch im Homeoffice. Doch jeden 2. Tag geht sie am Abend in die leere Redaktion, um abzuholen, was sich dort physisch angesammelt hat, denn auch das gibt es und nicht wenig. In der Regel buchstäblich Müll, erpresserische Torten sind da schon eher die Ausnahme. Von Hundekot bis zu Gummipenisse gab es alles.
Was Lydia so verstört, ist die Besserwisserei. Da passiert weltweit etwas, zu dem wir noch keine aktuellen Erfahrungen haben und schon gibt es eine Reihe selbsternannter Fachleute, ja Päpste, natürlich unfehlbare, die sich äussern, reden, schreiben, interviewen lassen, posten und reden und nochmals reden.
Sie hält durch, dankbar, dass sie in ihrem Fachbereich überhaupt bezahlte Arbeit hat und sie offensichtlich noch eine Weile behalten kann. Die Chefetage wusste ja auch, dass sie nicht den ganzen Müll in den redaktionellen Teil bringen konnten, aber er musste in der Zeitung vorkommen, das war so quasi der Konsens, damit es wohl nicht unter Hochdruck einen Knall geben wird. Also eine Art, Bombe von Besserwissereimüll. Ob sie darüber mal schreiben soll? Keine Chance, sie weiss es.
Dass die Behörden auf allen Ebenen auch Lernende sind, ist wunderbar für alle Möchtegernpolitiker. Da reisst der Lobbyist x den Mund auf und liest dem Bundesrat mal die Leviten. Da kommt der Bergrestaurateur ins Fernsehen und wäscht dem Bundesamt mal die Kappe. Da kommt der Lokalclubbesitzer ins TeleZüri und kann auf die Regierungsrätin losgehen wie die Löwen im Kolosseum in Rom. Brot und Spiele das heisst jetzt: Fakten ach was, ich bin Fakt, das reicht.
Lydia hält durch. Um aber am kleinbürgerlichen Wutschnauben nicht zu verzweifeln, leistet sie sich die internationalen News. Da sind die Reportagen aus Brasilien, aus Indien und aus Nepal. Dort gibt es nichts, keinen Impfstoff, keine Hygieneartikel, keinen Sauerstoff, ja an vielen Orten kaum Wasser. Die Menschen sterben und zwar ungezählt, vor allem die schon geschwächten – und das sind bei Unterernährung und Armut unendlich viele – Alte, Kinder, Schwangere.
Warum kann die Pharmalobby nicht auch nur teilweise auf Patente verzichten, um die Impfstoffherstellung in den armen Ländern zu ermöglichen und zu vervielfachen? Ist das kapitalistische System wirklich so schnell zu erschüttern? Warum können die reichen Länder nicht mehr Schutzmaterial exportieren, wir können doch jetzt abschätzen, wieviel wir aktuell brauchen und wie schnell wir Ersatz herstellen können? Warum kann nicht mehr Geld locker gemacht werden, wo es doch für die Wirtschaft im eigenen Land auch selbstverständliche Unterstützung gibt? Unsere grösste Sorge hier: auf der Restaurantterrasse kann man nicht mehr Pommes essen werden und der Fitnessclub bleibt geschlossen, die grösste Sorge dort: das nackte Überleben!
Nach jetzt bald 11/2 Jahren Pandemie mit viel verkündeter rosiger Aussicht auf „Normalität“ hält es Lydia nicht mehr aus. Sie sucht nach Myriam, ihrer vor Jahren aus den Augen verlorenen Kollegin aus der Gymizeit. Sie weiss nur, dass diese nach dem Medizinstudium mit Médecins sans frontiers „irgendwohin“ gegangen ist. Und sie hat Erfolg. So schwierig ist es ja nicht, die Organisation hilft gern. Myriam arbeitet in Nepal, ausgerechnet in Nepal. Lydia erhält die Mailadresse, nimmt Kontakt auf. Myriam reagiert unverzüglich, erfreut und herzlich. Ein Mailverkehr entsteht, der Lydia gut tut. Dann entscheidet sie. Die Organisation hat ihr bestätigt, dass man für sie eine Ausreise- und Einreiseerlaubnis organisieren kann, wenn sie mehrere Monate bleibt.
Lydia verlangt ein Gespräch beim Chef und erklärt kurz und knapp: ich kann nicht mehr, hier, so und die Welt… Erstaunlicherweise ist der Chef voller Verständnis und verspricht ihr: ich halte dir den Stuhl frei, solange ich kann, und bitte schreib wöchentlich eine Kolumne für uns: Fakten und Gefühle, aber echte. „Das mache ich gern“, ist Lydia begeistert – dass es dann gerade mal drei werden bis der Chefredaktor wegen der „exhibitionistischen Schwarzmalerei“ weitere ablehnt, weiss sie ja noch nicht.
Am Abend erklärt Lydia den etwas irritierten Leuten in der WG, dass sie für mindestens drei Monate nach Nepal gehe. Sie habe mit Myriam abgemacht, dass sie dort arbeiten könne. Myriam lebe jetzt schon mehr als fünfzehn Jahre in Katmandu. Sie leitet dort inzwischen eine mittelgrosse Klinik.
„Bitte bring unbedingt Desinfektionsmittel mit und für mich eine Schweizer Nussschokolade“. Lydia schmunzelt, das letztere ist fast schwieriger zu transportieren als all die Wünsche, die auch die Organisation an sie hat. Aber sie schafft es: sogar fünf Nussschokoladen hat sie verstaut in ihrem Handgepäck. Die medizinischen Güter sind deklariert und werden in zwei grossen Separatkoffern von der Fluggesellschaft mitgenommen, ausnahmsweise. So fliegt Lydia – sie, die nie geflogen ist – nach Nepal, wird mit den heiss begehrten Gütern von Myriam und einem Fahrer am Flughafen abgeholt und dann gleich in die Klinik gebracht. „Du musst entschuldigen, ich kann erst am Abend mehr Zeit mit dir verbringen“. Lydia versteht das gut, fordert aber, dass man sie irgendwo einsetze, wo sie nicht im Weg stehe. Noch ganz benommen von allem findet sich Lydia in der Küche, schnipselt Grünzeug, kocht Mais und Tee. Der Abend kommt unvermittelt rasch, die Nacht erst recht. Myriam holt sie aus der Küche und lacht: „So haben wir uns unser Leben im Schongang der Kleinstadt wohl nicht vorgestellt. Komm, erzähl.“ Und es gibt viel zu erzählen, aus zwei ganz verschiedenen Welten. Die Gefühle aber sind ähnlich. Immer wieder die Frage: mache ich das richtige? Was tun wir denn in dieser so verqueren ungerechten Welt? Bin ich mir treu? Verpasse ich das Leben oder mich selbst? Hatten sie nicht in ihren Studienjahren von Systemtechnik, von Vernetzung gehört? Hatte man ihnen nicht geschwärmt von der Erkenntnis, dass Veränderungen an einem Ort Auswirkungen auf den weit entfernten Ort haben können? Dass Armut und Gewalt dort auch hier wirksam ist? Dass Pandemie in Katmandu auch in der reichen Schweiz Rückschlüsse bilden kann? Morgen, übermorgen, irgendwann. Warum verdrängen wir das Erkannte so hartnäckig?
Die Schweizer Nussschokolade findet Myriam himmlisch, zu Tränen gerührt. Plötzlich ist so klar, was sie vermisst hat. Das ist natürlich mehr als Schokolade. Myriam hört einerseits erstaunt die geschilderte Realität aus der reichen Schweiz, und findet sie nicht nur easy. Lydia andererseits sieht die Realität in dem mausarmen Land und findet sie nicht nur schrecklich.
Es ist eine intensive Zeit. Lydia verbringt sie nicht nur in der Küche, nein, sie geht mit der Hilfsärztin auf Hausbesuche, sie assistiert in der Notfallsprechstunde und löst auch mal Myriam bei der Nachtwache ab. Sie gibt ihr das „Hotelzimmer“ weiter weg von der Klinik, damit sie mal ein paar Stunden am Stück schlafen kann.
Wie geht es weiter? Myriam sagt:“ ich weiss einfach, ich kann nicht weggehen, wer bleibt dann bei dieser Frau, die auf ein gesundes Baby hofft, wer ist für den alten Mann da, der auf den Tod wartet, der seltsamerweise nicht kommt“… und Lydia hört zu und überlegt: und ich? Kann ich zurückkehren zu Motzerei und Gequengel ohne zu schreien?
Lydia entscheidet, ja, sie geht für ein halbes Jahr zurück geht und dann kommt sie wieder. Sie wird die Zeit nutzen und die Finger wundschreiben, um an mehr Material, mehr Medikamente und mehr Geld zu kommen. Sie wird allen möglichen Stellen die Türen einrennen und um Hilfe und Unterstützung bitten, direkt, ohne Bürokratie, für Myriam, wenigstens für sie und ihre Aufgabe.
Auf dem Heimflug schaut Lydia auf diese Welt unter ihr, die unglückliche reiche, die immer mehr will und sich und ihre Lebensgrundlagen kaputt macht und auf jene unglückliche arme, der es an allem fehlt. Sie spürt ein riesiges Erbarmen, Tränen kommen, denn sie weiss, die Kräfte sind zu klein, sie reichen nirgends hin. Oder doch? Wie sagte ihre Mentorin: „Du bist nicht ohnmächtig, du bist nicht allmächtig, du bist partiell mächtig, und wenn du die partielle Macht für Gutes einsetzest, hast du getan, was du tun kannst“. Lydia atmet auf. Sie hat gewählt und gefunden und doch, sie kehrt in ihr altes Leben - vorübergehend.

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