
Februar-Geschichte
Ana und Ursula
Es ist heute so grau wie sie sich fühlt. Die Welt ein Brei, Brei im Kopf. Da hilft weder die Dusche, noch das Lüften, noch ein zweiter Espresso. Etwas erfinden: Migräne geht immer, Magen-Darm auch, Zahnschmerzen und wieder ins Bett kriechen? Ein Blick in die Agenda zeigt, was heute ansteht wird auch morgen anstehen. Also funktionieren, das hat sie gelernt, das kann sie.
Am Abend schleicht sie sich in die Wohnung, legt sich hin und denkt nach. Was nur ist los? So geht das nicht. Und tatsächlich die Grautage häufen sich, die graue Farbe entsteht überall, bei den Menschen, an den Häuserfassaden, ja selbst bei den sonst fröhlichen Schulkindern im Bus sieht sie eine Gräue, die Angst macht. Es stehen Feiertage bevor, zum Glück. Sich einschliessen, schlafen, nichtstun. Sie hat gegenüber allen Einladungen die Ausrede, bei den andern zugesagt zu haben.
Nach zwei Tagen betrachtet sie sich im Spiegel und sieht die alte Frau, die sie geworden ist, quasi über Nacht. Sie erschrickt. Wo ist das Leben hingekommen? Es war doch eben noch da, mal mehr mal weniger, das schon, aber spürbar und ja eben lebendig.
Unter die Dusche, sich anständig kleiden, Wanderstiefel, Handschuhe und raus. Zwei Stunden gehen, auch wenn sie friert und müde ist. Sie hadert mit sich, schimpft sich eine Heulsuse, rattert ihr alle Privilegien entgegen, die sie doch hat. Dann kehrt sie nach Hause zurück und sucht die kleine Karte, die sie im letzten Herbst auf der Skandinavien Reise von Ana bekommen hat. Es war ein guter Abschlussabend gewesen in der kleinen Pension. Sie hatten gelacht und sich halb englisch, halb deutsch unterhalten ohne Hemmungen. Finnisch, das konnte ja kein Mensch aussprechen, der nicht dieser Muttersprache ist. Ana hatte sie dringend gebeten, doch wieder zu kommen und auch mal für länger zu bleiben.
Ursula telefoniert. Nach dem zweiten Klingelton ist Ana am Apparat und Ursula sagt lachend: ich bin es. Nur ein kurzes Zögern auf Seite von Ana und schon kommen Fragen. Dann wird es still. Ana sagt: Komm doch und ja, Ursula sagt zu. –
Ursulas Reise dauert. Sie fliegt nicht mehr. Die Fähre ist über die Feiertage schon ausgebucht. Sie kommt in die Warteschlaufe. Schliesslich schafft sie es, schickt Ana ein Sms: bin um 1615h am Pier 2, wenn s klappt. Und es klappt, Ana steht an der Anlegestelle. Sie umarmen einander und freuen sich. Der Himmel ist grau, es ist kalt, die Welt trotzdem kein Brei und im Kopf tausend Lichter.
In der gemütlichen Wohnung hat Ana einen Eintopf in den Ofen geschoben, die Flasche Wein ist entkorkt, das Holz im Cheminée aufgeschichtet und jetzt sind sie zu Hause. Es fühlt sich gut an. Ursula gesteht ihre Krise. Ana hört zu. Heute muss nichts analysiert, nichts geklärt werden, schon gar keine Ratschläge sind gefragt, zuhören genügt. Dann eine Tasse Tee, ein warmes Bett und Ursula muss gar nichts mehr. Sie darf hier einfach sein, so müde und grau, wie sie ist.
Am Morgen ist die Welt noch immer eher grau, aber es macht nichts, seltsamerweise. Es riecht nach Kaffee und Ana sitzt am schon gedeckten Tisch. Willkommen – das genügt. Die beiden haben zu reden, über das, was geht und vor allem über das, was nicht geht. Auch Ana ist so in der Mitte des Lebens angekommen ohne Hochs und Tiefs, ohne Familie – sie sagt, bewusst so entschieden – und einem Beruf, der zwar okay ist. Doch die Aussicht auf weitere zwanzig Jahre Arbeit macht eng ums Herz. Ursula kann nur zustimmen. Es scheint, irgendwo sei über Hunderte Kilometer ein Koordinatensystem entstanden, das genau hier einen Knoten bildet- Ihn gilt es zu lösen.
Vorerst aber: ein Spaziergang und ein Gang auf den Markt. Die Halle ist voller Leben, voller Farben und Gerüche. Ohne sich gross abzusprechen finden sie, was ihnen beiden schmecken wird. Ihr Apéro in der Bar an der Ecke bringt sie in Ferienstimmung. Ferien – eigentlich sind es ja nur noch drei Tage bis das alte Leben wieder weitergehen wird. Statt sich zu sorgen entscheiden sie, heute Nachmittag mal loszufahren. In den weiteren Norden – dort, wo das Grau immer weisser wird und schliesslich im Sommer die Helligkeit nie aufhört. Ana warnt: jetzt ist es aber Winter und nur dunkel, macht das was? Sie hat einen Kleinwagen, der es schon schafft, man muss ihn einfach zu nehmen wissen.
Sie fahren in den dunkeln Nachmittag, durch Wälder; sie scheinen allein auf der Welt zu sein. Nicht ganz: hier ein Wegweiser zu einem Gasthof. Sie nehmen die kleine Strasse und wirklich: hell erleuchtete Fenster, ein paar wenige Autos. Sie beschliessen, hier mal Station zu machen. Sie nehmen sich ein Zimmer, geniessen ein währschaftes Nachtessen und schliesslich kommt die Flasche noch halb voll mit aufs Zimmer. So – wie geht es mit uns weiter? Das will Ana wissen. Darauf gibt es nun wirklich keine schnellen Antworten. Ursula erinnert sich: als junges Mädchen hat sie sich gewünscht ein Hotel zu führen, so wie dieses hier. Nicht zu gross, gemütlich, mittlere Preisklasse, in dem die Leute ankommen, bleiben, nachdenken und dann wieder aufbrechen können. Sie seufzt – Jungmädchenträume. Ana schweigt; sie kommt aus einer Hotelier Familie und weiss, dass das gar keine romantische Seite hat, viel Arbeit bedeutet, ohne Freizeit und dass heute, wo Tourismus das grosse Business ist, gar niemand mehr richtig ankommen, da sein und denken will. Das schon gar nicht. Meistens fragen sie schon vor dem Zimmerbezug, wo denn die nächsten Sehenswürdigkeiten seien, die sich lohnen. Das hat sie aus dem Hotel vertrieben und ihre Familie schliesslich auch. Weder die Eltern noch der Bruder mit der Familie wollten in diesem Wahnsinn die Relaisstation für diese armen Seelenflüchtigen spielen.
Schliesslich werden sie müde, müde auch von den aussichtlosen Träumen, von der Lebenszeit, die hinter ihnen und nur noch beschränkt vor ihnen liegt, von allen Wenn und Aber. Der letzte Wein kommt in die Gläser, sie stossen an, auf was denn? Warum nicht auf Trotz? Einfach einmal Trotz, nicht mehr und nicht weniger. Sich immer anpassen, vernünftig sein und dann sterben. Und sie beginnen wie Teenager zu lachen über ihre Unsicherheit, sie die bestandenen tüchtigen Frauen, aus zwei Welten zufällig aufeinander gestossen, im hohen Norden in einem kleinen Hotel und in einem Schwebezustand- Sind sie wieder 13? Oder doch schon 18? Sie beginnen ein Spiel. Sie nehmen die Europakarte, die da im Halter liegt und jede muss eine Zahl sagen zwischen 0 und 29. 29 Seiten hat diese auf Portefeuille Format zugeschnittene Karte. Euopa in Tranchen. Als Kind hatte Ursula das jeweils mit dem grossen Atlas gemacht und sich dann an jenen Ort geträumt, auf den die Seitenzahl fiel. Sie hat sich ein Leben in der Sahara, bei den Inuit, in den Wäldern von Kanada und in Neuseeland ausgemalt. Schliesslich statt eine Schnitzeljagd eine Inseljagd. Bei der Zahl zwischen 0 und 20 musste sie dann auf der Insel bleiben, bis zu der sie zählen konnte. Ana und Ursula spielten – schliesslich fragt Ana: Ursula, wo willst du denn wirklich leben? Das Spiel ist mit dieser Frage aus und ein Stück Lebensrealität kehrt ins Zimmer: was wäre wenn… Wenn sie sich wirklich einen neuen Lebensort, einen andern Lebensmittelpunkt suchen würden, gemeinsam, ohne Sicherungsseile, ohne tausend Bedenken? Das Gespräch wird zögerlich, müde und doch – sie wünschen sich eine gute Nacht.
Nach dem Frühstück fahren sie zurück in Anas Wohnung. Sie sind still. Schliesslich sagt Ursula: ich gehe nach Hause und kündige meine Stelle. Ich habe noch Ferien auf dem Konto. Ich könnte in zwei Monaten wieder hier sein, leise meinte sie, frei sein. Ana lächelt. Erst zu Hause nimmt sie Ursula in den Arm: ja, komm, wir sind frei.
Es ist kein Spiel mehr als sie die Planung beginnen: Wieviel Geld haben wir? Welche Sprache wollen wir zur neuen gemeinsamen machen? Süden oder Norden? Manchmal ist es lustig, manchmal zickig und manchmal ist es zappenduster, konfliktiv. Aber es ist gut, sicher, richtig, farbig, lebendig.

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