
August-Geschichte
Tom & Mia
Heute musste er es ihr sagen. Alles andere wäre unfair. Aber schon der Gedanke daran, machte Tom das Herz schwer. Mia würde ihm das nicht glauben, nicht glauben wollen. Sie würde ihm auch nicht Steine in den Weg legen, das nicht. Aber es würde das Ende ihrer Beziehung sein. Dabei war Mia doch eine so wunderbare junge Frau. Er liebte sie, glaubte sie zu lieben. Vergleichsmöglichkeiten hat er ja nicht. Mia stand in der heiklen Situation damals plötzlich neben ihm, er legte den Arm um sie und barg ihr Gesicht an sein T Shirt. Sie sollte nicht die ganze Ladung Tränengas abbekommen. Es war eine spontane selbstverständliche Handlung und fühlte sich in jeder Beziehung richtig an. Danach schlenderten sie gemeinsam zum Jugendtreff, wuschen die tränenden Augen und – ja, lachten und freuten sich, dass sie sich getroffen hatten. Das war ein grosses Geschenk, da, wo ihnen so gar nichts geschenkt wurde, im Gegenteil. Sie wussten, es waren Fotos gemacht worden. Möglicherweise würden sie identifiziert und eine Vorladung bekommen. Tom zum mindesten, ihn kannten sie nur zu gut.
Ihre Arbeit ging weiter, in der Schule, mit Endspurt auf die Prüfungen, in den Klimagruppen und doch, es wuchsen ihnen Energie-Flügel. Seit sie sich kannten, sind sie sich immer wieder begegnet, mal da mal dort, beim Transpi malen, im Debattierclub, in der Pressegruppe. Es fühlte sich richtig an, nebeneinander zu stehen, und es wurde akzeptiert, Tom und Mai, ja, die gehören zusammen, irgendwie.
Tom machte Karriere, sofern das in einer Bewegung so genannt werden kann. Er war beliebt, weil er anständig war, kein Rüpel, er wusste sehr viel und war doch nicht der Besserwisser, er konnte reden aber auch zuhören. Man schickte ihn immer wieder nach vorn, er soll ein Interview geben, er soll doch ins Regionalfernsehen, er soll an der Mittelschule aufs Podium. Er machte es und reüssierte. Er wusste Fakten, Zahlen, konnte logische Argumentation mit Leidenschaft verbinden. Seine Schlussfolgerungen brachten sogar ab und zu die Experten oder solche, die sich dafür hielten, in Verlegenheit. Mia sass oft im Plenum und bewunderte ihn, toll, der hat es drauf und war einfach gut. Sie war stolz auf ihn. So konnte es weitergehen.
Selbstverständlich hatte er Feinde. Wer Erfolg hat, muss bei uns mit Reaktion rechnen. Nur Durchschnitt ist wirklich okay. So gab es jene, die lachten: ah, da kommt er wieder der Missionar! Und jene, die eifersüchtig waren: willst du eigentlich Präsident der USA werden, du Schleimer! Und selbstverständlich jene, die petzten: in der Schule wurden ihm Arbeitsblätter verschmiert, die er abgeben wollte, wurden ihm Hakenkreuze auf die Hefte gemalt und beim Lehrer gemeldet, er sei ein Rassist. Halt all die Tausend Dinge, mit denen man andere Menschen ärgern kann.
Die Eltern waren unsicher, teil stolz teils besorgt. Tom sollte doch nach den Prüfungen an die ETH gehen und etwas lernen, mit dem er dann eine Arbeit finden und allenfalls dort Karriere machen könnte –und einfach zufrieden leben. All diese Aufregung und „Besonderheiten“ verwirrten und machten auch Angst. Wo würde das hinführen? Ihre Freunde machten spitze Bemerkungen und die Frauenrunde kommentierte: er will wohl etwas Besonderes sein. Die Kollegen in der Firma zogen die Augenbrauen hoch: Dein Sohn ist ein Fanatiker! Diese Jungen haben ja keine Ahnung, was und wie wir malochen mussten, um uns etwas leisten zu können und jetzt wollen sie uns die Ferien in Ibiza madig machen? Die sollen mal erst…
Mia und Tom nahmen zwar das alles wahr, aber ihre Gefühle für und ihre Sicherheit um einander machte sie unangreifbar. Bis zu jenem Weekend, zu dem Tom die Strategieleute eingeladen hatte. Er freute sich, dass Mia mitkommen wollte. Aber nur zum Teil. Er wusste, hier spiele ich eine Rolle, will sie spielen, die ihr wohl kaum gefällt. Denn an diesem Strategie Wochenende mussten endlich Nägel mit Köpfen gemacht werden, wie das ja heisst. Er wollte endlich weiterkommen, weitergehen, halt auch bis an die Grenze und darüber hinaus.
Es waren nur gut ein Dutzend junge Männer und vier Frauen mit dabei. Tom erklärte: Wir kommen nicht weiter. Wir sind die Trottel des Systems. Sie finden uns nett oder auch nicht, aber ernst, im Sinn einer wirklich machtvollen Kraft sind wir nicht. Das bleibt in den Händen jener, die die Machtzentren besitzen wie seit je, die militärischen, die industriellen und die politischen Herren. Daran ändern wir hier in unserem Land nichts. Er redete leidenschaftlich und ja auch verzweifelt.
Das kam nicht gut an. Du siehst schwarz, wir haben schon viel erreicht, wir werden doch da und dort gefürchtet, wir haben Erfolg bei Abstimmungen, mindestens Achtungserfolg und selbst die Parteien von mitte bis links kommen an uns nicht vorbei. Du hat selbst gesagt, dass die Grünen und die Roten und die Grünliberalen dich auf der Liste wollen… Tom hörte sich das alles an und wurde auf einmal schwer und traurig. Mia merkte es. Sie meldete sich zu Wort: Tom hat schon irgendwie Recht. Wir können noch lange so weiterarbeiten; aber während wir das tun, geht Tag für Tag der Planet vor die Hunde. Sie holzen den Regenwald stündlich ab und wir meinen, wenn wir Bockenhaus Möbeli kaufen, sei das quittiert. Sie buddeln die Erden aus für ihre Technik und wir kaufen das neuste Handy, um uns zu vernetzen. Wie cool ist denn das? Tom hörte Mia zu und lächelte. Sie ist wunderbar.
Nach dem Nachtessen, bei dem heftig weiter diskutiert wurde, kam die Debatte in geordnete Bahnen, Terminpläne wurden verfasst, Verantwortliche der regionalen Zentren bestimmt und Zeitpläne justiert. Jede und jeder wusste, wie es im nächsten Vierteljahr weitergehen soll und doch sollen alle offen für spontane Aktionen und Überraschendes bleiben.
Mia beobachtete, dass Tom keinen einzigen Job annahm und freute sich: das bedeutet doch mehr Zeit mit ihm oder – und da wurde ihr das Herz schwer: aha, er hat andere Pläne. Beim Feierabendbier sprach sie ihn darauf an. Er wich aus. Hier in der Gruppe wollte und konnte er nicht reden.
Heute aber musste er es ihr sagen. Alles andere ist feige.
Sie trafen sich wie so oft in der Pizzeria und genossen das Zusammensein. Dann nahm Tom ihre Hand: ich gehe weg. Ich kann nicht einfach an die ETH, studieren und so tun, als sei die Welt in Ordnung. Und ich kann und will mich nicht mehr verheizen in Tausend Kleinigkeiten, über die man stolz nickt, aber anderswo ins Fäustchen lacht. Sollen sich die Jungen doch verausgaben, das ist schon recht, so hatte er kürzlich nach dem Podium zwei honorige Herren, einer Konzernchef und einer Politiker reden hören. Da sei ihm bewusst geworden, er muss sich entscheiden, wie er leben wolle, nicht einfach Aktivismus, aber auch nicht resignieren, verzweifeln, tun als ob nichts wäre und dazu brauche er Abstand. Er habe sich entschieden. Er gehe nach Neujahr in eine Gemeinschaft, sie heissen die „Kleinen Brüder“, das sei eine religiöse Gemeinschaft, die es schon Jahrzehnte gebe. Jetzt aber seien nur noch vereinzelte kleine Gruppen verstreut in wenigen Ländern. Sie hätten im Plan, eine kleine Gruppe neu in Nordafrika zu gründen, am Rande der Wüste. Er sei dort gewesen – damals als er sagte, er müsse seine amerikanische Grossmutter besuchen, die schwer erkrankt sei, sie wolle ihn nochmals sehen – und habe geredet und geschwiegen. Er sei wahrscheinlich nicht religiös, kein „guter Bruder“, aber die hätten gesagt, seine Leidenschaft zu hören und wahrzunehmen, reiche. Er verpflichte sich mal für ein Jahr.
Und bitte, behalt diesen Entscheid als unser Geheimnis. Nur meine Eltern wissen es und die sind ganz von der Rolle. Sie sind überzeugt, ich sei nicht richtig im Kopf, ich vermassle mein Leben und sind todunglücklich. Wir haben uns geeinigt, dass wir von einem Studienjahr in Amerika reden; sie können sich nicht vorstellen, allen die Wahrheit zu sagen, die niemand versteht.
Mia ist konsterniert. Als sie protestieren will, merkte sie, wie falsch das wäre. Sie nickt und meint: ich möchte, ich könnte so klar sehen. Ich beneide dich.

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